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Eigene Publikationen/Vorträge/Pressenachrichten

Selbstfürsorge ist Weltfürsorge: buddhistische Traditionen praktizieren

Einen Ort der Stille finden.
Ein Vortrag von Shosan Gerald Weischede auf den XIV. Kongress für Erziehung und Bildung.

Göttingen am 16. November 2013

Sehr geehrte Damen und Herrn,
welche Menschen wollen wir auf diesem Planeten sehen, welche Menschen wollen Sie auf diesem Planeten sehen? Welche Eigenschaften sollen sie haben, diese Menschen?
Was würden Sie antworten auf eine solche Frage?

Um eine solche Frage beantworten zu können, wäre es gut, eine Vision von unserer Zukunft zu haben? Wie wünschen wir uns eine Welt in der Zukunft, wie soll sie aussehen diese Welt?

Und wenn Sie sich dann klar darüber geworden sind, welche Eigenschaften diese Menschen haben sollen, dann machen Sie sich auf den Weg und werden genau diese Person mit diesen Eigenschaften. Warten Sie nicht auf andere, warten Sie nicht auf den Erlöser, die charismatische Person, die die Welt rettet. Nein, entwickeln Sie diese Eigenschaften jetzt in diesem Ihrem Leben.
Das ist die Aufforderung der buddhistischen Tradition an die Menschen, ich könnte sagen: Werden Sie ein Buddha, jetzt!

Der Kongress neigt sich seinem Ende zu und ich möchte Sie hier noch einmal an den Titel erinnern: Solidarität und Selbstfürsorge. In ihrem Vorwort schreiben Karl Gebauer und Ulrich Geisler, dass eine humane Gesellschaft auf der Fähigkeit beruht, Mitgefühl zu empfinden, Rücksicht zu nehmen und mit anderen zu kooperieren. Ein gelingendes Leben braucht Solidarität und Selbstfürsorge, Wahrhaftigkeit und Vertrauen.

Die hier angesprochenen menschlichen Qualitäten sind nicht einfach „da“, sie müssen entwickelt werden. Um sie entwickeln zu können, brauchen wir gute Rahmenbedingungen, in den Familien, in den Kitas, in den Kindergärten, in den Schulen, in den Unis, in der Gesellschaft. Diese Bedingungen könnte ich als „äußere“ beschreiben. Darüber hinaus aber benötigen wir auch gute „innere“ Bedingungen.

Wie aus der Ankündigung im Programmheft zu meinem Vortrag ja deutlich wird, beschäftige ich mich mit dem Buddhismus, theoretisch, aber auch praktisch.
Der Buddhismus arbeitet mit zwei Arbeitsmodellen: Zum einen mit einer Vision über den Menschen und zum anderen mit der Erkenntnis, dass menschliche Verhaltensweisen veränderbar sind, trotz aller gegenteiligen Erfahrungen. Wir sind veränderbar, meine Damen und Herren, die aktuellen neurobiologische Erkenntnisse bestätigen das und weisen darauf hin, dass das Gehirn eine Plastizität bis ins hohen Alter hat.

Welches sind nun die anzustrebenden menschlichen Qualitäten aus buddhistischer Sicht?
Es gibt in der buddhistischen Tradition einen berühmten Zen-Lehrer und Philosophen –Dogen– der sich und auch uns folgenden Frage gestellt hat: Was bedeutet es, ein „Wirklicher Mensch“ zu werden? Und er beantwortet seine Frage mit einer weiteren, erst einmal humorvollen Frage: Ist es eine Rolle vorwärts oder ist es eine Rolle rückwärts? Werden wir ein „Wirklicher Mensch“, indem wir eine Rolle vorwärts machen, oder eine Rolle rückwärts? Ich werde auf diese Fragen später zurückkommen.

Hier nun einige dieser anzustrebenden menschlichen Qualitäten:
1. Ziel aus buddhistischer Sicht ist es, weniger zu leiden, vielleicht sogar, ganz leidensfrei zu werden.
2. Das Anhaften aufzugeben.
3. Angstfrei zu werden.
4. Im Zentrum einer buddhistischen Pädagogik, so könnte ich sagen, steht die Fähigkeit, Mitgefühl zu entwickeln.
5. Im Verlauf eines solchen Prozesses entwickeln wir dann Weisheit, eine Weisheit, die nicht nur Altersweisheit bedeutet, sondern Weisheit, die praktisch ist und auf der Erfahrung basiert, dass die Verwirklichung von Glück möglich ist. Dieses Glück bedeutet mehr als einfache Zufriedenheit.
6. Schweigen, still werden können.

Diese hier skizzierten, aber noch zu entwickelnden menschlichen Qualitäten sind erreichbar, durch Übung, durch viel Übung. Zu allererst durch intellektuelle Einsicht, durch Rechtes Verstehen und dann durch konkrete praktische Umsetzung.
Ich habe diesen Weg, den ich ja nun schon länger gehe, als eine weitere Sozialisation erlebt, zum ersten Mal habe ich die Ziele bestimmt.
Und hier habe ich mich ganz konkret mit der Frage beschäftigt: Welche menschlichen Eigenschaften möchte ich entwickeln, welche möchte ich „gießen“ und welche nicht?

Das Interessante nun ist, dass dieser „wirkliche/neue“ Mensch nicht dadurch entsteht, dass der alte, wie in der zeitgenössischen Psychotherapie, verändert wird, sondern es wird parallel zur bestehenden Struktur eine neue menschliche Struktur entwickelt. Die angestrebten Qualitäten wie Angstfreiheit, Mitgefühl und Weisheit werden sozusagen direkt entwickelt und beginnen dann im Laufe der Zeit, die alten Strukturen zu durchdringen, zu beeinflussen und zu verändern.

Im Folgenden geht es um das Curriculum, ein „Wahrer Mensch“ zu werden. Aus diesem Curriculum möchte ich einige Aspekte herausgreifen.

Wie sieht eigentlich unser Alltag aus? Wir haben immer etwas zu tun. Wir haben Pläne, wir müssen oder wollen von A nach B, wir müssen immer irgendwo hin. Fast alles was wir tun, ist mit einer Absicht verbunden, wir handeln absichtsvoll und zielgerichtet. Wir sind aktiv.
Und zwischendurch müssen wir uns ausruhen, bei einer Tasse Kaffee, mit einem Nickerchen oder eben auch nachts. Aber wenn wir genau hinschauen werden wir feststellen, dass auch diese Ausruh-Phasen in der Regel einer Absicht folgen: Wir gehen abends ins Bett, um am nächsten Tag wieder fit zu sein für all unsere weiteren Aktivitäten. Auch unser Urlaub steht im Dienst der Wiederherstellung unserer Arbeitskraft, soll uns wieder fit machen für all unsere Aktivitäten.
Es gibt immer etwas zu tun und wir müssen immer irgendwo hin. Mit einem Wort: Wir sind immer in Bewegung.

Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, nur oft entwickelt diese Tagesstruktur ihre eigene Dynamik, sodass wir hin und wieder oder auch öfter das Gefühl haben, diese Struktur bestimmt mich und nicht ich sie. Es ist wichtig hier noch einmal darauf hinzuweisen, dass diese Verhaltensstruktur eine grundsätzlich menschliche ist: Wir sind immer in Bewegung.

Diese Erkenntnis vorausgesetzt geht eine buddhistische Pädagogik nun hin und sagt: Werde still. Bewege dich nicht.
Das fällt natürlich in einer Gesellschaft wie der unsrigen nicht gerade auf fruchtbaren Boden. Still zu sein, sich nicht zu bewegen und das kennen viele von uns, ist ja eher eine Strafe. Sich bewegen zu können hat etwas mit Freiheit zu tun und eine Einschränkung mit Unfreiheit.
Aber genau das fordert die buddhistische Pädagogik: Setze dich hin und bewege dich nicht.
Dies ist keine Strafe, sondern es ist das Aussteigen aus der oben beschriebenen Tagestruktur. Ich steige aus aus der Bewegung, ich steige aus aus meinem grundlegenden Bewegungsmuster und setze mich ab und zu einfach nur still hin.

Wenn Sie das einmal ausprobieren, werden Sie zwei Erfahrungen machen: Zum einen werden Sie feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, wirklich still zu sitzen und den Körper überhaupt nicht zu bewegen. Zum anderen stellen sie dann fest, dass ihr Geist weiterhin sehr aktiv ist. Und das ist, aus buddhistischer Sicht, das eigentliche Problem. Der Geist ist aktiv, scheinbar immer.
Sie sehen, die Aufforderung still zu werden bezieht sich sowohl auf den Körper als auch auf den Geist. Der Geist soll still werden. Das ist die eigentliche Aufgabe: Die Beruhigung des menschlichen Geistes.

An dieser Stelle wird ein grundsätzliches Problem menschlicher Selbstreflexion deutlich. Wir betrachten die Welt, wir betrachten, wie wir die Welt betrachten, wir beobachten was wir tun, wir reflektieren. Wir machen Erfahrungen und wir ziehen Schlüsse aus diesen Beobachtungen und diese Erfahrungen. Und dann treffen wir Entscheidungen, wie wir uns verhalten wollen, das kann bewußt sein, aber auch unbewußt. Wenn ich mir einen solchen Prozess sozusagen von außen ansehe, so stelle ich fest, dass wir unsere Entscheidungen in der Regel mitten im fließenden Leben treffen, Entscheidungen werden in den Aktivitäten getroffen.

Meine Damen und Herrn, wenn Sie wichtige Entscheidungen in ihrem Leben treffen müssen, Entscheidungen, die nicht einfach sind und die möglicherweise ihr weiteres Leben stark beeinflussen werden: Wie treffen Sie diese Entscheidungen? Oft sagen wir: Das entscheide ich aus dem Bauch heraus. Oder wir sagen: Darüber muss ich erst einmal schlafen. Aber was genau passiert im Schlaf in Bezug auf die Entscheidung? Ist das ein „Ort“ den Sie aufsuchen? Oder passiert es eher „einfach so“?

Der Ansatz für den ich hier plädieren möchte ist: Suchen Sie einen Ort auf, der außerhalb Ihrer normalen Aktivitäten liegt, ein Ort der still ist, weil er sich außerhalb der normalen Bewegungsmuster, körperlicher und geistiger Muster, befindet.
Dieser Ort der Stille hat zwei Aufgaben: Zum einen sollte er Sie still werden lassen. Und Zweitens: Aus dieser Stille heraus dann werden Sie die Welt mit anderen Augen sehen. Von hieraus haben Sie einen weiteren, neuen Standpunkt, Entscheidungen zu treffen. Somit haben Sie zwei Perspektiven: Die aus der Aktivität heraus und die aus der Stille heraus. Und ich verspreche Ihnen, der Blick aus der Stille auf Ihr Leben und ihre Aktivitäten ist ein anderer. Er ist neuer, unvoreingenommener und frisch.

Das Thema meines Vortrages ist „Selbstfürsorge“. Wie können wir für uns sorgen, sodass uns geholfen ist aber auch der kleineren und größeren Welt um uns herum?
Um gut für mich sorgen zu können, muss ich mich gut kennen.

Ein wichtiger Aspekt im Rahmen eines solchen Selbststudiums ist die Praxis der Achtsamkeit, ein zurzeit großes Thema.
Die Aufgabe einer Achtsamkeitspraxis ist es, uns im Alltag in den jetzigen Augenblick zu bringen, oder besser, unsere Aufmerksamkeit, unseren Geist, auf das zu lenken, was wir gerade tun.

Ich gehe im Moment davon aus, dass Sie mir nicht zuhören, oder besser, nicht immer zuhören. Einige von Ihnen denken über das nach, was Sie heute oder gestern gemacht haben. Sie sind mit ihrer Aufmerksamkeit in der Vergangenheit, zuhören können sie mir dabei nicht.
Robert Trivers hat das in seinem Vortrag im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes im Oktober so beschrieben: „Ich fahre mit meinem Auto vorwärts und denke mit meinem Geist rückwärts. Das ist eine gute Basis für ein Desaster.“
Oder Sie denken über Ihre Pläne nach, Pläne die Sie nach diesem Vortrag haben, Pläne die Sie morgen oder nächste Woche haben. Dann sind Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit in der Zukunft. Auch dann hören Sie mir nicht zu. Sie pendeln hin und her zwischen meinem Worten und ihrer netten und interessanten Innenwelt.
Und das tun wir in der Regel andauernd.
Nur sehr selten sind wir in diesem Augenblick mit unserer Achtsamkeit und genau das ist die Praxis der Achtsamkeit, Sie in den jetzigen Moment zu holen.
Wo ist Ihre Aufmerksamkeit gerade jetzt?…..
Hören Sie mich?…..

Wie kann ich ein „wahrer Mensch“ werden? Das ist die Frage, auf die alles immer wieder hinausläuft.
Aus buddhistischer Sicht muss und kann ich dafür etwas tun. Und der Buddhismuss bietet eine Fülle von Ansätzen an, die praktiziert werden können.
Zwei dieser Ansätze möchte ich Ihnen vorstellen.
Die 6 Paramitas, und die Gelöbnisse. Beide Ansätze fördern genau das, was Solidarität und Mitgefühl, Selbstfürsorge, Wahrhaftigkeit und Vertrauen entstehen lässt.

Die Paramitas werden auch als die 6 Vollkommenheiten bezeichnet. Die erste ist Großzügigkeit. Dies meint Geben, Offenheit, es bedeutet „Ja“ sagen, es bedeutet „Willkommen zu heißen“.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier noch einmal deutlich machen, dass aus budd. Sicht diese Eigenschaft eingeübt werden kann, wir können Großzügigkeit erlernen. Es macht einen großen Unterschied, ob Sie grundsätzlich mit einem „Nein“ durch den Tag gehen, mit einem „Lass mich in Ruhe“ oder mit einem „Ja“. „Ja, ich bin offen für dich“. Das können wir uns vornehmen, offen zu sein, Willkommen zu heißen.
Großzügigkeit bezieht sich aber nicht nur darauf, großzügig gegenüber anderen zu sein, es meint auch die Großzügigkeit mir gegenüber: Sind Sie großzügig sich selbst gegenüber, sind Sie sich selbst gegenüber offen, heißen Sie sich selbst willkommen?
Waren Sie heute schon großzügig mit sich?

Das zweite Paramita ist Geduld. Das ist natürlich ein schwieriges Thema. Wie geduldig bin ich mit anderen, wie geduldig bin ich mit mir selbst.
Geduldig sein bedeutet, warten können, warten darauf, dass mein Gegenüber seine oder ihre Zeit braucht. Jeder Prozess benötigt seine Zeit. Habe ich die Geduld, auf das Reifen dieses Prozesses zu warten? Es braucht Zeit. Bin ich bereit, diese Zeit zur Verfügung zu stellen? Don’t push the river. Ein Fluss kann nicht schneller fließen, er brauch seine Zeit.

Als nächstes kommt dann die Disziplin. Disziplin meint hier nicht Gehorsam innerhalb einer Ordnungsregulierung, es meint auch nicht so etwas wie Selbstzucht oder Selbstregulierung, sondern Disziplin meint hier die Offenheit, empfangen zu können, Lernen zu wollen. Neugierig zu sein.

All dies benötigt Energie. Das ist das vierte Paramita.
Hier wird deutlich, dass wir die Absicht benötigen, uns auf diese Prozesse einzulassen. Ja, wir müssen eine Entscheidung treffen, eine Absicht, diesen Weg der Veränderung, besser der Selbstveränderung, zu gehen. Wenn wir diese Entscheidung dann getroffen haben, verfolgen wir dies mit Vitalität und Kraft.

Im 5. Paramita werden wir aufgefordert, regelmäßig zu meditieren, regelmäßig den „Ort der Stille“ aufzusuchen, an dem wir uns das ganze Geschehen aus der Unbewegtheit anschauen können. Hier gibt es nichts zu tun, hier müssen wir nirgendwo hin. Es gibt nichts zu tun, wir müssen nirgendwo hin.

Im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes im Oktober 2013 gab es unter anderem einen Vortrag über die Zeit von Thomas De Padova: „Leibnitz, Newton und die Erfindung der Zeit“. Das Grundthema: Ist die Zeit etwas Subjektives, etwas von uns hergestelltes so wie Leibnitz es sah, oder gibt es so etwas wie eine Absolute Zeit? Dies war die Ansicht von Newton.
Dass es die Absolute Zeit nicht gibt, hat Einstein ja vor 100 Jahren nachgewiesen.
Dennoch ist durch den Vortrag klar geworden, dass uns die Zeit fast komplett im Griff hat: Unsere Tage und Jahre sind komplett durchstrukturiert, die Zeit bestimmt unseren Tagesablauf. Die Zeitstruktur bestimmt uns mehr, als uns lieb sein kann. Unsere Arbeit ist zeitlich durchstrukturiert, wir treffen uns zu bestimmten Zeiten, wir essen zu bestimmten Zeiten, wir machen Urlaub zu bestimmten Zeiten und wir schlafen zu bestimmten Zeiten. Die Zeit gibt uns eine Art Korsett, in dem wir dann unsere Pläne unterbringen, um sie dann mit Absicht und zielgerichtet umzusetzen.

Der „Ort der Stille“, den wir zum Beispiel während der Meditation aufsuchen, gibt uns die Möglichkeit, aus dieser Zeitstruktur auszusteigen. Für einige Minuten, oder auch eine halbe Stunde gibt es nichts zu tun, wir müssen nirgendwo hin, wir können einfach nur in diesem Augenblick ankommen.
Sie bekommen hier vielleicht eine Idee, wie wohltuend das sein kann – es ist so, als ob eine Last von Ihnen abfällt: Es gibt nicht s zu tun, ich muss nichts erreichen, ich muss nirgendwo hin.
Hier können wir vielleicht auch erkennen: Ja es gibt die gesellschaftliche Zeit, die Uhr-Zeit, Clock-Time, aber es gibt auch so etwas wie „Meine Zeit“, so etwas wie „Seins-Zeit“. Ja vielleicht erkenne ich ja sogar, dass ich Zeit „bin“. Ja, ich bin Zeit.
Auf dieser Basis sagen Sie dann vielleicht nicht mehr so oft: „Ich habe keine Zeit.“ Sie sind Zeit.

Ich sprach über Großzügigkeit, über Geduld, Disziplin, Energie und Meditation.
Aus diesen 5 Ansätzen nun entwickelt sich Weisheit. Nach Gert Skobel ist Weisheit die „meisterhafte Lösung bedeutsamer und schwieriger Lebensprobleme, Weisheit ist darüber hinaus eine „weitreichende, vielfältig anwendbare, gelungene und nachhaltige Form der komplexen Problemlösung.“ (S.12) Es ist Wissen aus direkter und lebendiger Erfahrung.
Weisheit ist eine gelassene Haltung gerade angesichts der Komplexität des Lebens. (S.102)
„Weise sind Wanderer zwischen den Welten“, sind dennoch „ganz im Fluss der Dinge“ und praktizieren Gleichmut und Demut, Eigenschaften, die an sich schon heilsam sind. (S.103)

Der Weise hat erkannt und hat verwirklicht, dass unser Leben
– ein dynamisches ist,
– sich selbst herstellt
– sich ständig verändert
– und ergebnisoffen ist.

Mit einem Wort: Das Leben ist ungesichert.
Allan Wats hat dies einmal als die Weisheit des ungesicherten Lebens bezeichnet.
Sie sehen meine Damen und Herren, Weisheit ist kein mentaler Rentenanspruch, sondern es ist Arbeit.

Ein weiterer Einstieg in die Praxis, ein „Wahrer Mensch zu werden“, sind die Gelöbnisse. In unserer christlichen Tradition werden sie die Gebote genannt. Es scheint so, dass diese oder eine ähnliche Aufzählung sich in fast allen Weltreligionen finden lässt.
Diese Gebote beinhalten die Aufforderung, nicht zu Töten, nicht zu Lügen, nicht zu stehlen usw. In der Regel werden sie „eingehalten“, sei es aus Angst vor Strafe oder aus der Einsicht heraus, dass ein gesellschaftliches Leben ohne diese Grundregeln kaum lebbar ist. Sie werden betrachtet als Verbote oder Verhaltensmaßregeln. Sie sind moralische Aufforderungen, die sich in verschiedenen Gesellschaften oder zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausformen.
Aus buddhistischer Sicht werden aus diesen Verboten oder Geboten die „Gelöbnisse“. Diese sind zu verstehen eher im Sinne von Weisungen und nicht im Sinne von An-Weisungen. Die Gelöbnisse sollen eine Richtung vorgeben.

Was sind, aus zen-buddhistischer Sicht nun die „Ursprünge“ der Gelöbnisse?
Personen, die z.B. über einen längeren Zeitraum hinweg meditiert haben, entwickeln nach und nach ein tiefes Mitgefühl für sich und die Welt. Sie beginnen das, was der Wortursprung meint: sie fühlen „mit“. Sie beginnen sich selbst mehr und mehr zu fühlen und erweitern dieses mitfühlen mehr und mehr auf die sie umgebende Welt. Mitgefühl meint den tiefen Wunsch, Leiden aufheben zu wollen. Es ist die Erfahrung von tiefem Frieden und Angekommen sein im jetzigen Augenblick, eine Erfahrung, die geteilt werden möchte, in ihrer Fülle sogar geteilt werden muss. Daher der Wunsch, dass alle fühlenden und nicht-fühlenden Wesen diese Erfahrung machen mögen.
Aus diesen Erfahrungen heraus nun entsteht die Einsicht, dass Töten, Lügen, Stehlen, schlechte Rede usw. diesem erfahrenen Mitfühlen komplementär entgegensteht. Töten, Lügen und Stehen verhindert gerade das, was der Meditierende verwirklicht hat und weiterhin verwirklichen möchte. Es ist genau diese verwirklichte Erfahrung, die dann Lügen oder Stehlen nicht mehr möglich macht.
Der „Gradmesser“ für ein solches ethisches Handeln ist das erfahrene Mitgefühl, das tiefe Verbunden-sein mit sich und der Welt und der tiefe Wunsch, dass es allen Wesen gut ergehen möge. Eine solche Person benötigt keine Verbote oder Verhaltensmaßregeln (mehr), sie ist ihr eigenes Maß.

Eine solche Ethik entwickelt sich also, indem die Gelöbnisse auf sich selber angewendet werden.

Meine Damen und Herren, stellen Sie sich einmal vor, sie würden ab sofort aufhören, sich selber zu belügen. Ab heute sind Sie ehrlich zu sich selber. Sie hören damit auf, sich innerlich zu rechtfertigen über Dinge, die eigentlich nicht wirklich in Ordnung waren. Ab heute, besser noch ab sofort, handeln sie ehrlich.

Oder Sie hören ab sofort auf, schlecht über sich zu denken. Sie machen sich innerlich nicht nieder oder machen sich Vorwürfe. Sie hören einfach damit auf und beginnen so einen Prozess, sich selbst zu akzeptieren, genau so wie sie sind.

Mit einem Wort: Sie beginnen sich sorgend und liebevoll zu behandeln und entwickeln somit Mitgefühl für sich und die sie umgebende Welt.
Grundlage all dieser Erkanntnisse und Entwicklungen ist der „Stille Ort“, den es regelmäßig aufzusuchen gilt.

An der Uni in Erfurt gebe ich ein Seminar mit dem Titel „Labor auf dem Sitzkissen“. Hier bringe ich den Studenten die Meditation nahe. Parallel dazu wird aber auch die buddhistische Philosophie studiert.
Dieses Seminar beschäftigt sich mit der Frage des Selbststudiums. Was bedeutet es, gerade im Rahmen eines Universitätsstudiums, sich selber zu einem Objekt von Wissenschaft zu machen? Gibt es so etwas wie eine „Erfahrungs-Wissenschaft“? Können wir die Maßstäbe der zeitgenössischen Wissenschaft, also „wissenschaftliche Kriterien“, auf das Studium von uns anwenden? Können wir uns zum Studienobjekt in einem Labor machen, welches hier das Sitzkissen ist?

Alles sehr interessante Fragen und die Antworten zeigen in folgende Richtung: Wenn wir ein „Wirklicher Mensch“ werden wollen, haben wir keine andere Wahl, als uns erst einmal selber zu studieren. Wir können uns nicht verändern, wenn wir uns nicht kennen. Wir machen uns zum Objekt der Untersuchung, ein Objekt, das sich nicht „außerhalb“ von uns befindet, sondern wir sind das Objekt der Wissenschaft. Und dann beginnen wir unseren Körper, unsere Gefühle und unseren Geist zu studieren. Und es wird deutlich: Ja es ist möglich sich selber zu studieren und es zeigt interessante Einsichten.

Was nun genau geschieht an diesem „Ort der Stille“:
Wie schon weiter oben angedeutet, werden wir körperlich bewegungslos. Auf dieser Grundlage erkennen wir, dass unser Geist scheinbar ununterbrochen aktiv ist.
Der nächste  Schritt, nachdem wir körperlich still geworden sind ist nun, den Geist zu beruhigen. Das geht nicht, indem wir ihm sagen: Sei still. Das kennen Sie sicher alle. Ihrem Geist zu sagen, er soll sich beruhigen und still werden, führ zu genau dem Gegenteil, er wird noch aktiver.
Daher geben wir dem Geist eine kleine Aufgabe:
Wo spüren wir die Bewegung des Atems im Körper?
Oder wir geben die Aufgabe: Zählen Sie den Atem von 1 bis 10. Eine scheinbar einfachen Aufgabe, aber versuchen Sie es einmal, Sie kommen wahrscheinlich bis 2 oder bestenfalls bis 3 und dann sind Sie wieder in Ihren Gedanken und inneren Filmen verstrickt. Wenn Sie das feststellen, kehren Sie wieder zu Ihrem Atem zurück, ganz geduldig bringen Sie die Aufmerksamkeit des Geistes immer wieder zum Atem zurück.
Und im Lauf der Zeit entsteht dann so etwas wie ein Atemhintergrund, immer wenn Sie nicht besseres zu tun haben, nehmen sie Ihren Atem wahr.

Ich verspreche Ihnen, Sie werden in dieser Stunde ruhiger, und nicht nur das, Ihr Leben bekommt einen anderen Rhythmus, eine etwas andere Geschwindigkeit. Das Geheimnis ist nun, dass Sie das regelmäßig tun, Sie suchen diesen Stillen Ort regelmäßig auf.

Es gibt eine weitere interessante Aufgabe oder Erfahrung an diesem „Ort der Stille“: Wir werden absichtslos.
Sie erinnern sich: Ich sprach vorhin davon, dass wir immer etwas zu tun haben, dass wir immer irgendwo hin wollen. Und genau hier ist die Gelegenheit, aus diesem Muster auszusteigen. An diesem Ort der Stille haben wir keine Absicht mehr. Wir müssen nirgendwo hin, es gibt nicht zu tun. Keine Ziele mehr.
Wie fühlt es sich an, aus diesem Aktivitätskreislauf auszusteigen, welche Auswirkungen hat eine solche Erfahrung? Ab und zu wirklich absichtslos zu werden hat Auswirkungen, hat Auswirkungen auf unser ganzes Leben. Es wird zu einer Art Maßstab, mit dem wir beginnen, vieles von dem was wir sonst so tun, zu messen. Wie sieht das was ich tue aus der Perspektive der Stille aus? Wie sieht das was ich tue aus der Perspektive von „Keine Absicht haben“ aus?
Dieser Stille Ort kann zu einem wirklichen „Ort“ werden, ein Ort den wir regelmäßig aufsuchen, aber auch ein Ort, den wir langfristig eben auch immer bei uns haben.
Es sind diese kleinen Pausen im Leben. Wir halten für einen Augenblick inne, wir pausieren. Hier schließen wir eine Aufgabe ab, machen eine Pause und können dann „neu“ beginnen. Erst wenn wir etwas wirklich abgeschlossen haben, können wir neu beginnen.

Diese hier beschriebenen Eigenschaften und Kompetenzen muss ich natürlich für erstrebenswert halten. Wenn sie mir wichtig sind, muss ich nicht mehr darauf warten, dass sie sich irgendwie entwickeln, sondern dann bin ich bereit, Zeit und Energie in diese meine Entwicklung zu investieren, eben auch noch als Erwachsener.

Ein „wirklicher Mensch“ zu werden, so sagt Dogen, ist wie eine Rolle vorwärts, wie eine Rolle rückwärts: Machen Sie einmal eine Rolle vorwärts oder rückwärts. Sie verlieren für einen Augenblick die Orientierung, für einen Augenblick wissen Sie nicht mehr, wo oben oder unten ist. Für einen Augenblick haben wir unseren Bezugsrahmen verloren, für einen Augenblick können wir die Welt ohne Vorannahmen, ohne Konzepte, ohne Idee erleben. Wir haben, mit anderen Worten, für einen Moment die Kontrolle verloren.

Wir werden still, wir schweigen. Wir sind nicht mehr in der Zweiheit, der Dualität. Dies ist der Stille Ort, an dem für einen Augenblick wir keine Sprache anwenden, keine Erklärung, keine Anleitung, keine Ausführungen, wir lassen alle Fragen und Antworten zurück.
Wir schweigen. Der Geist reagiert nicht mehr. Wir schauen einfach nur noch, wir hören einfach nur noch. Es ist wie die Welt mit neuen Augen betrachten, es ist wie mit neuen Ohren hören. Dies ist der Ort, von dem aus wir neu beginnen können, von hier aus können wir immer wieder ein neues Leben beginnen, frisch und ohne alte Vorannahmen und Ansichten. Das ist es doch, was wir uns immer gewünscht haben.
Ein neues Leben. Sie können es jetzt haben – Werden Sie für einen Augenblick ganz still. Schauen und hören Sie einfach nur, ohne irgendeine Absicht. Es entsteht ein ruhiger, klarer Geist, der uns eine andere Perspektive der Weltbetrachtung ermöglicht, der uns die Welt neu betrachten lässt.
Diesen „Ort der Stille“ können Sie jederzeit aufsuchen.

Es könnte die Aufgabe einer (buddhistischen) Pädagogik sein, die Kinder, die Schüler, die Studenten aber vor allem erst einmal uns zu diesem „Stillen Ort“ zu führen.

Vimalakirti fragt Manjusri: Welche Methode wendest du an, um in die Verbundenheit einzutreten?
Manjushri sagt: Meines Wissens nach ist in allen Dingen keine Sprache, keine Erklärung, keine Anleitung und keine Ausführung, alle Fragen und Antworten zurücklassend – dies ist die Methode um in die Verbundenheit einzutreten.
Dann fragt Manjushri Vimalakirti: Wir haben beide gerade gesprochen. Nun, guter Mann, solltest du sagen, was ist deine Methode, in die Verbundenheit einzutreten?
Vimalakirti schwieg.

Vielen Dank!