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Eigene Publikationen/Vorträge/Pressenachrichten

Krankheit und Psyche im buddhistischen Selbstverständnis – Zen-Meditation als Heilungsweg?

ein Vortrag von Shosan Gerald Weischede in Berlin

gehalten auf dem 4. Berliner psychiatrisch-religionswissenschaftliches Coloquium am 28. November 2012


Die Wahrheit vom Leiden: Leben wird als Leiden erlebt.
Wir sind krank. Dieses ist in Kürze zusammengefasst, was der Buddha nach langem Studium erkannt hat. Wie ein Arzt hatte er, nach gründlicher Selbstuntersuchung, die Krankheit diagnostiziert, ihre Symptome beschrieben und einen Heilungsplan entworfen. Was war nun seine Diagnose: Wir kranken an unserem Geist.

Bekannt geworden ist diese Diagnose unter dem Begriff der „ 4 Edlen Wahrheiten“:
1. Leben wird als Leiden erlebt
2. Das Leiden hat Ursachen
3. Der Entschluss, das Leiden zu beenden
4. Der Weg, das Leiden zu beenden

Diese „ 4 Edlen Wahrheiten“ sind nun nicht nur eine Beschreibung der Krankheit, sondern auch 4 Schritte zur ihrer Behandlung:
1. Schritt: Was genau ist die Krankheit?
2. Schritt: Wie entsteht sie?
3. Schritt: Gibt es eine Medizin, die Krankheit zu heilen?
4. Schritt: Die Bereitstellung einer Medizin.

Was sind die Krankheitssymptome der vom Buddha attestierten „Geisteskrankheit“? Das Hauptsymptom dieser Krankheit ist das Leiden. Aus der Sicht des Buddha ist es möglich, dieses Leiden zu beenden, ein menschliches Leben ohne Leiden zu verwirklichen. Ein Leben ohne Leiden wäre dann eines, das als ein glückliches zu bezeichnen wäre, eines, das Freude und Frieden zur Grundlage hätte, denn nicht mehr zu Leiden bedeutet, ohne Angst zu leben. Betonen möchte ich noch einmal, dass es hier um das mentale Leiden geht, es ist das Leiden an der Existenz. Dieses Leiden aufzuheben bedeutet nicht, dass wir keine Dissonanzen mehr erleben oder nicht mehr enttäuscht werden. Es bedeutet vielmehr, dass wir anders damit umgehen oder richtiger: wir erleben unser gesamtes Dasein in einer „anderen“ Art und Weise.

Mit unserer Geburt beginnt ein Lebensprozess, der durchzogen ist von einem Auf und Ab zwischen Angenehmem und Unangenehmem, von Gesundheit und Krankheit, von körperlichem Aufblühen und körperlichem Abbau. Wir erleben einen Prozess, der durchzogen ist von Momenten des Glücks und des Unglücklichseins, von Zeiten der Angst und der Angstfreiheit. Oft sind wir vereint mit Personen, die wir nicht lieben und genauso oft sind wir getrennt von dem, was wir lieben. Wir haben Wünsche und sie erfüllen sich nicht, wir begehren Dinge und Personen und wir erlangen sie nicht.

Wir erleben körperliches Leiden, geistiges Leiden, Leiden, das als psychosomatisch beschrieben werden kann.Wir leiden an der Unvereinbarkeit unserer Hoffnungen und Wünsche mit der Wirklichkeit. Sind diese Diskrepanzen nicht mehr zu überbrücken, entstehen Neurosen, Psychosen und außergewöhnliche Geisteszustände. Die Lebensmodelle sind gescheitert.

Das Leiden am Wesen allen Daseins ist ein weiterer zentraler Aspekt unseres geistigen Leidens. Es sind Fragen nach der Existenz, wo kommen wir her, wo gehen wir hin, was ist der Sinn des Lebens? Auch Freud hat Personen, die unter diesen Fragen leiden, etwas Krankhaftes attestiert. Aus seiner Sicht sind diese Personen nicht (mehr) arbeits- und liebesfähig, denn wären sie es, würden solche Fragen nicht auftreten.
All diese Krankheiten werden aus der Sicht des Buddhismus nicht negiert. Sie sind Teile unseres Lebens.

Darüber hinaus gibt es noch Symptome, die wir in der Regel nur als  „Verstimmtheiten“ beschreiben, aus buddhistischer Sicht aber sind sie weitere Formen des Leidens in unserem alltäglichen Leben:
Es sind die Symptome von:

  1. Unruhe (getrieben sein ohne eindeutige Ursache)
  2. Unzufriedenheit (allgemeine Unzufriedenheit ohne eindeutige Ursache)
  3. Zu viel oder zu wenig Disziplin
  4. Gier (Anhaftung)
  5. Schlechte Gedanken (Auch Gedanken sind ‚Taten’, es ist nicht ‚egal’ was gedacht wird, es hat entsprechende Auswirkungen.)
  6. Zweifel (zersetzender Zweifel, nützlicher Zweifel)

Im Koan-Buch „Das Buch der Heiteren Gelassenheit’ heißt es:
„Im Jahr 832 fragt der Herrscher seinen Premierminister: „Wann wird das Land Frieden finden?“. Sengru antwortete: „Friedvolles Regieren hat keine besondere Form. Zurzeit überfallen uns die Nationen um uns herum nicht und die Bauern sind nicht abtrünnig; obwohl das nicht die letztgültige Ordnung darstellt, könnte man es doch als recht gesund bezeichnen. Wenn Eure Majestät einen großen Frieden sucht, der darüber hinausgeht, so liegt das außerhalb meiner Fähigkeiten.“

Hier wird ein aus buddhistischer Sicht großes und schwerwiegendes Problem angesprochen: Wir suchen eigentlich kein Glück, sondern Wohlbefinden. Viele Menschen haben sich im Laufe des Lebens damit abgefunden, dass wirkliches Glück, der Große Frieden, ja doch nicht zu erreichen sei. Sie haben aufgegeben und ihr Leben auf Wohlbefinden, den kleinen Frieden, beschränkt: Komfortables Leben, Ferien, gutes Essen, guter Sex, gute Gespräche, gute Arbeit, Wellness. Ganz tief in sich haben sie die Hoffnung auf den Großen Frieden aufgegeben und begraben.

Wir könnten nun mit Freud einwenden, dass Glück in der Schöpfung nicht vorgesehen ist und es im Leben um die (Wieder-) Herstellung unserer Liebes- und Arbeitsfähigkeit geht. Damit scheinen wir aber nicht zufrieden zu sein. Gehen die oben beschriebenen Symptome wie Unruhe und Zweifel denn wirklich weg? Bedarf es nicht einer grundlegenden Veränderung, die unsere gesamte Sicht- und Lebensweise betrifft? Der Buddha orientiert sich mit seinem Ansatz genau hieran: Es bedarf einer grundlegenden Wandlung, die sich sowohl als kontinuierlicher Wandlungsprozess als auch in plötzlichen Schritten vollziehen kann.
Erwachen, wach werden, aufwachen geschieht immer in einem kurzen, erleuchtenden Augenblick. Die Basis hierfür aber ist der jeweilige Augenblick.

Es scheint ein weiteres Symptom unserer geistigen Krankheit zu sein, genau diesen Augenblick nicht wahrzunehmen, ihn andauernd zu verpassen. In der Regel sind wir nicht im jetzigen Augenblick: Wenn wir denken, denken wir über Dinge nach, die wir erlebt haben und sind somit im Geist in der Vergangenheit oder wir machen Pläne, dann sind wir mit unserem Geist in der Zukunft. Wir sind immer im Nachher oder im Vorher.

Leben ist in diesem Augenblick, es kann nur in diesem Augenblick sein und wir verpassen den Augenblick, indem wir unseren Geist stetig von ihm weglenken.

Ich möchte hier den Begriff der Täuschung einführen. Täuschung ist die falsche Auffassung eines Sachverhalts. Täuschung kann durch Manipulation aber auch durch eine falsche Wahrnehmung entstehen.

Und hier kommen wir zum entscheidenden Punkt: Ja, wir leiden, aber die eigentliche Grundlage unseres Leidens, so der Buddha, ist unsere getäuschte Wahrnehmung. Unsere Wahrnehmungsprozesse selber führen zur Täuschung.
Würde diese These stimmen, dann würden wir auf Grund von getäuschten Wahrnehmungen immer wieder Entscheidungen im Leben treffen, die zu Leiden führen.
Wir können die buddhistische Praxis des Studierens der Wahrnehmungsprozesse auch als Phänomenologie der Wahrnehmung oder als eine Phänomenologie des Geistes beschreiben.

Eine solche Praxis ist somit keine Psychologie, sondern eine, so könnten wir sagen, Geistologie.

Die Ursachen des Leidens:
Genaues Studieren und Analysieren der Welt

Im Rahmen der Bearbeitung unseres Themas sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass der Buddhismus eine (geschichtliche) Entwicklung durchlaufen hat und immer noch durchläuft. Da es in dieser Tradition keine Schriften gibt, wie im Christentum die Bibel, auf die sich ihre Vertreter letztgültig beziehen, ist der Buddhismus als Praxis in andauernder Veränderung und Weiterentwicklung.

So betrachtet, haben wir weiter oben dieser Entwicklung vorgegriffen. Die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung, besser der Wahrnehmungsprozess, selber zu Täuschung führt, hat sich erst später herauskristallisiert.

Zunächst einmal war eine der ersten großen Aussagen des Buddha:
Leiden entsteht durch Anhaftung.
Was nun bedeutet Anhaftung? Auf grundlegender Ebene meint Anhaftung das Nicht- Annehmen von Veränderung und Bewegung.

Anhaftung entsteht immer dann, wenn ein Kontakt befriedigend war, wenn ein Bedürfnis befriedigt worden ist. An dieser Stelle entsteht der Wunsch, diese Befriedigung immer wieder „haben“ zu wollen. Hier beginnen wir, die Welt aufzuteilen, in Angenehmes und Unangenehmes. Dieser Prozess basiert natürlich auf dem Lust-Unlust Prinzip und ist im Rahmen der kindlichen Entwicklung einer, der seine Berechtigung hat. Auf der Ebene des Erwachsenen sollte dieses Prinzip aber nur noch eine eingeschränkte Berechtigung haben. Natürlich erscheint es auf den ersten Blick wie eine „natürliche und normale“ Reaktion: Es soll uns doch gut gehen, wir wollen so wenig wie möglich leiden. Das Problem nur ist, dass wir versuchen, den „natürlichen“ Prozess der Veränderung zu vermeiden. Wir legen den Schwerpunkt unserer Anstrengung auf das Angenehme, das Unangenehme wird in den Hintergrund gestellt. Und dann sind wir immer wieder überrascht, wie es sich Bahn bricht und uns in tiefe Leidensprozesse wirft.

Ruiyan fragte Yantou: „Was ist das grundlegende beständige Prinzip des Universums?“
Yantou sagte: „Bewegung“
Ruiyan sagte: „Wenn da Bewegung ist, was dann?“
Yantou sagte: „Du siehst das grundlegende beständige Prinzip nicht.“

Anhaftung ist das Festhalten (am Angenehmen). Loslassen wäre demnach die Einwilligung in die Erkenntnis und die Erfahrung, dass unser Leben, so wie alles andere auch, ein Prozess von Bewegung ist. Leben ist Bewegung und damit Veränderung. Jeder Versuch, diesen Fluss zu verlangsamen, umzuleiten, anzuhalten oder zu negieren, muss unweigerlich zu Leiden führen.

Auf der Grundlage dieser Überlegungen stellt sich eine nächste Frage: Wer macht das alles, wem geschieht das alles, wer ist der Akteur dieses Dramas? Aus einer, zugegebenermaßen etwas naiven aber durchaus verbreiteten Sicht geschieht all dies ‚mir’. Dieses mir bin ‚ich’ und wird als ein ‚Selbst’ erfahren, erlebt und gelebt.
Um die Frage, wer oder was dieses „Selbst“ ist, beantworten zu können, möchte ich einen größeren Bogen spannen. Wir alle erleben uns als einheitliches Wesen; im Vollbesitz all unserer Kräfte haben wir ein klares Gefühl dafür, dass es uns gibt, dass wir existieren und dass es eine klare Grenze gibt zwischen mir und der Welt. Genauer betrachtet kann dieses Gefühl von Einheit und Selbst nur dann auftreten, wenn ich mich als getrennt erlebe. „Ich in Abgrenzung zu“ meint, ich bin anders. Das andere, die anderen sind sozusagen der Hintergrund, zu dem ich mich abgrenze. Oder wir erleben den anderen als ‚Spiegel’; dass die andere Person von uns getrennt ist, ist dabei eine unabdingbare Vorraussetzung.

Francesco Varela hat in dem Film „Monte Grande“ diesen Prozess so beschrieben: Die Aufgabe des menschlichen Gehirns ist es nicht, Informationen zu sammeln, sondern in jedem Augenblick den Eindruck von Einheit herzustellen.
Diese Einheit, dieses Selbst hat etwas sehr überzeugendes, erleben wir unser Selbst doch als handelnden Agenten, als Selbst, das eine Einheit von Erfahrung schafft, das eine Kontinuität von Erfahrungen herstellt und als Fahrzeug für die Sammlung all unserer Erfahrungen dient. Diese Erfahrungen selber werden editiert und geformt durch das Selbst. All dies ist so überzeugend, dass es uns in der Regel sehr schwer fällt, hier eine Ursache unseres Getäuschtseins zu erkennen.

Wir beginnen dieses Selbst für etwas reales zu halten.
All dies geschieht nur dadurch, dass wir unserem Selbst eine Festigkeit zubilligen, die es so nicht gibt.

Aus der Sicht des Buddhismus müssen wir unser Selbst als einen Prozess betrachten, als die Herstellung eines momentanen Augenblicks von Selbst. Es gibt ein momentanes Selbst, das Augenblicke später sich schon wieder verändert hat. Eine solche Wahrnehmung führt dazu, dass wir unsere bisher als starr erlebten „Grenzen“ zunehmend als durchlässig und flexibel erleben. Wir beginnen, uns dem Fluss des Lebens nicht mehr zu widersetzen, sondern wir beginnen einzuwilligen in diesen Fluss. Wir nehmen „Zuflucht“ in diese unendliche Bewegung und hören auf, aus dieser Welt zu flüchten. Was eben genau meint, dass wir uns nicht mehr verschließen, sondern uns öffnen, für alles, sei es nun angenehm oder unangenehm.

Zurück zu unserer Ausgangsfrage: Wem geschieht all dies? Es geschieht niemandem, ist die Antwort aus der Sicht des Zen, oder besser, es geschieht unserem Nicht-Selbst. Wir finden kein festes Ich oder Selbst, dem dies als Person passiert. Das Leben geschieht einem Wesen im Prozess, es geschieht einem Wesen als Prozess, das keinen festen, unveränderlichen Kern hat. Es gibt somit keine „Person“ die leidet. Was bleibt sind Aktivitäten und Prozesse des Freuens, des Trauerns, des Unglücklichseins und des Glücklichseins.

Eine Ursache unseres Leidens ist also unsere Tendenz anzuhaften und uns zu identifizieren. Die Grundlage hierfür aber ist, und das ist in der geschichtlichen Entwicklung des Buddhismus der nächste Schritt gewesen, die Erkenntnis, dass wir im Prozess unserer Wahrnehmung selber einer grundlegenden Täuschung unterworfen sind (siehe hierzu auch: Thomas Metzinger: Der Ego Tunnel).
Das Entstehen von Bewusstsein selber, das Heraufheben einer Wahrnehmung in unser Bewusstsein und damit in Sprache, startet einen Prozess des Leidens, den der Buddha als Täuschung beschrieben hat.
Dieser Prozess sind die 5 Skandhas: Es ist die Beschreibung der Entstehung des menschlichen Bewusstseins, das mit jedem Kontakt immer wieder neu entsteht. Dieser Entstehungsprozess wird aus buddhistischer Sicht gründlich studiert, gerade und besonders im Hinblick auf mögliche Täuschungen.

Die 5 Skandhas sind:
Form
Gefühl
Wahrnehmung
Impulse, Wille
Bewusstsein.

Täuschung entsteht dann, wenn dem ursprünglichen Kontakt (Form genannt) Gefühle, Assoziationen, Impulse und Wille hinzugefügt werden. Sprache spielt in diesem Prozess natürlich eine entscheidende Rolle. Die „Überlagerung“ des ersten Kontaktes führt, so die buddhistische Erfahrung, zu Täuschungen.

Die Verhinderung dieser möglichen Täuschungen liegt in der einzuübenden Fähigkeit, den Prozess des Bewusstseins, den Prozess der Bewusstwerdung, direkt an seinem Anfang zu unterbrechen und im allerersten Kontakt zu verweilen. Dieser vorsprachliche, vorbewusste Kontakt ist die jeweilige Grundlage für jede Wahrnehmung, sei sie nun beim Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Berühren. Wenn wir dort, und sei es nur immer wieder für einen kurzen Augenblick, verweilen können, ist die erfahrene Grundlage jeden Kontaktes die des (noch) nicht Getrenntseins, des Einsseins mit dem Objekt des Sehens, dem Geräusch, dem Duft, der Speise und dem berührten Gegenstand.

Zusammenfassend können wir sagen: „ Im ersten Skandha findet ein ursprünglicher, primärer Kontakt statt. Durch die dann einsetzenden Aktivitäten wird diese primäre Wahrnehmung zu einer persönlich gefärbten, subjektiven Wahrnehmung. Dies ist ein basaler, unvermeidlicher Prozess. Aus neurobiologischer Sicht wird ja sogar postuliert, dass die primäre Wahrnehmung bereits eine zeitversetzte Kopie der unmittelbaren Sinneseindrücke ist: Wahrnehmung besteht nur aus Nervenimpulsen –on und off – die zu einer ‚Gestalt’ verarbeitet werden und einen ersten Eindruck vermitteln; dies nennt man in der Regel ‚Präsentationen’ im Sinne dieser primären, unmittelbaren Wahrnehmung. Die Präsentationen werden dann weiter verarbeitet, durch die entsprechenden Filter der Erinnerungen, Assoziationen, Gefühle etc., und werden dann zu Repräsentationen, zu ‚Bildern’. Aus buddhistischer Sicht führt das Anklammern und Anhaften an die Repräsentationen (z.B. des Selbst) mit der Vorstellung von Dauer, Leidfreiheit und inhärenter Identität gerade zu Leiden.“ (Weischede/Zwiebel: Neurose und Erleuchtung S. 85/86)

„Der Alte Meister Cizhou  sagte:’Beim Gehen, beim Sitzen, halte dich einfach  an den Moment, bevor Gedanken entstehen, sieh hinein, und du wirst Nicht-Sehen sehen – und  dann lege dies zur Seite. Wenn du deine Bemühungen auf diese Weise ausrichtest, beeinträchtigen Ruhepausen nicht das Meditations-Studium, und das Meditations-Studium beeinträchtigt nicht die Ruhepausen.’“ (Buch der Heiteren Gelassenheit)

Rechte Erkenntnis-Rechter Entschluss

Was ich Ihnen bis hierher vorgestellt habe, fällt aus buddhistischer Sicht unter Rechtes Erkennen.
Es ist die Erkenntnis, dass unser Leiden auf Ursachen beruht, auf die wir großen Einfluss haben, wir könnten sogar sagen, die wir immer wieder herstellen. Das aber bedeutet, dass wir das Leiden auch aufheben können.
Diese Erkenntnis ist die Grundlage für einen Entschluss: Es ist der Entschluss, dem Leben eine andere Richtung zu geben. Es ist der Entschluss, das Leiden zu beenden, das durch Täuschung entsteht.
Die Aufhebung der Täuschung aber ist ein Prozess, der nicht einfach ist. Es bedeutet in der Regel viele Jahre des Selbststudiums.
Diese Rechte Erkenntnis schafft somit ein neues Selbstbild und ein neues Weltbild, sie schafft eine Grundlage, zukünftige Erfahrungen anders einzuordnen und anders zu bewerten. Es ist wie das Erstellen einer neuen Landkarte, anhand derer die zukünftigen Erfahrungen neu bewertet werden können.

Labor auf dem Sitzkissen:

Nach der Erkenntnis, hier nun der WEG:Das, was traditionell als Meditation auf dem Sitzkissen bezeichnet wird, möchte ich in diesem Rahmen nun als „Labor auf dem Sitzkissen“ bezeichnen. Das Labor (laborare: arbeiten, leiden, sich abmühen) ist ein Ort, an dem u.a. Experimente (Versuch, Beweis, Prüfung) durchgeführt werden. Im Rahmen der Wissenschaft bedeutet dies, methodisch angelegte Untersuchungen die der Gewinnung von empirischen d. h. erfahrungswissenschaftlichen Daten dienen.
Hiermit wären somit die Grundlagen für das Labor auf dem Sitzkissen beschrieben: Das Experiment und die Beobachtung.
Nun zur Versuchsanordnung oder dem Versuchsaufbau:
Ein ruhiger angenehmer Ort, an dem der Versuch ungestört stattfinden kann. Eine Unterlage mit einem Sitzkissen, wahlweise auch ein Sitzbänkchen oder ein Stuhl.
Der Versuchsablauf: Die Versuchsperson sitzt aufrecht mit geradem Rücken. Hierbei entscheidend ist eine regungslose Haltung, bei der auch kleinste Bewegungen vermieden werden. Es ist kein einmaliges Experiment, sondern eines, das regelmäßig wiederholt wird.
Der Beobachter: Das, was auf dem Sitzkissen stattfindet, wird von einem (inneren) Beobachter begleitet. Er beobachtet die körperlichen Aktionen und Reaktionen, die Gefühle und die geistigen Aktivitäten des Meditierenden. Er sollte „Reines Beobachten“ anwenden können: Dem zu Beobachtenden wird nichts hinzugefügt, es wird aber auch nichts weggenommen; es wird nicht kommentiert und so betrachtet, wie es sich dem Beobachter darstellt.
Das Objekt wird aus der Sicht des „Reinen Beobachtens“ in seinem reinen So-Sein wahrgenommen.

Der Alltag

Neben der Meditation gibt es natürlich noch unseren sogenannten Alltag. Er nimmt in der Regel, im Vergleich zur Meditationszeit, den weitaus größeren Teil des Tages ein und schließt die Zeit des Schlafens mit ein.
Unsere Untersuchungsobjekte Körper und Geist werden also 24 Stunden lang beobachtet und untersucht: zum einen auf dem Sitzkissen und zum anderen im Alltag für den die Praxis der Achtsamkeit vorgeschlagen wird.

In der Regel kennen wir zwei Geisteszustände: Das Wachbewusstsein und das Schlafbewusstsein, welches grob aufgeteilt werden kann in den Traumschlaf und in den traumlosen Tiefschlaf. Achtsamkeit nun ist ein dritter Geisteszustand, den wir, wie ich weiter oben schon angedeutet habe, natürlicherweise nicht haben. Wir müssen ihn erlernen, wir müssen ihn „erwecken“.

Wie weiter oben schon beschrieben, lenkt der Beobachter nun die Aufmerksamkeit auf den „jetzigen Augenblick“, er wertet das beobachtete Objekt nicht, er ändert es nicht. Mit einem Wort: Er greift nicht ein in das, was er wahrnimmt. Dabei ist er sich dieser Prozesse deutlich bewusst. Diese Art der Wahrnehmung hatten wir „Reines Beobachten“ genannt. Solche Wahrnehmungsprozesse führen in der Regel dazu, dass unsere Wahrnehmung „verlangsamt“ wird. (Das Stille Sitzen auf dem Sitzkissen fördert und unterstützt diesen Prozess natürlich besonders.) Wir reduzieren die Geschwindigkeit der Wahrnehmung und beginnen mehr und mehr, die „Details“ unseres Lebens zu sehen. Wir erkennen, dass jedes Detail einen Beginn hat, sich entfaltet, um dann zu seinem Ende zu kommen. Ein sich immer wiederholender Prozess, dem alle Details des Lebens -in jeweils unterschiedlichen Geschwindigkeiten- unterworfen sind. Durch eine solche Achtsamkeitspraxis beginnt unser gesamtes Leben eine andere Geschwindigkeit anzunehmen, eine Geschwindigkeit, die uns angemessener ist, aber auch der Welt der Dinge und Begegnungen.

Bewegung und damit Veränderung als eine der grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Universums ist somit auch für eine solche Praxis die entscheidende Grundlage. Denn wenn es gilt, im Fluss des Lebens „anzukommen“, dann hat die Praxis des Zazen und Zen eben kein Ziel, das außerhalb des jetzigen Augenblicks zu suchen oder zu finden wäre.

Mit diesem Ruhigen Geist studieren wir das Naheliegende: Unseren Körper, unsere Gefühle, die Inhalte des Geistes und den Geist selber.

Das Studium des Körpers als erste Phase der Achtsamkeit umfasst die Vier Edlen Haltungen von Liegen, Sitzen, Stehen und Gehen, das Wahrnehmen der Körperteile und die damit einhergehende Wahrnehmung und Erkenntnis, dass auch unser Körper einer kontinuierlichen Veränderung unterliegt. Erhellend ist dabei, dass Veränderung so nicht mehr etwas Abstraktes ist, das dort „draußen in der Welt“ geschieht, sondern als direkte Erfahrung von Vergänglichkeit erlebt wird: Ich bin Veränderung.

Dann studieren wir das Flüssige, das Feste und das Luftige unseres Körpers, das Warme und das Kalte. Nichts wird mehr als selbstverständlich angesehen, alles wird aus der Sicht des Reinen Beobachtens betrachtet.
Im Zentrum dieser ersten Phase der Achtsamkeit aber steht der Atem. Er wird in allen seinen Aspekten immer wieder studiert, nicht nur von Anfängern. Welche Wichtigkeit der Atem hat, macht folgende Geschichte aus dem ‚Buch der Heiteren Gelassenheit’, einer Sammlung von einhundert Koans, deutlich:
„Ein Rajah (indischer Herrscher) eines Landes im Osten Indiens lud den siebenundzwanzigsten buddhistischen Patriarchen Prajnatara zu einem Fest ein. Der Rajah fragte ihn: „Warum liest du die Schriften nicht?“ Der Patriarch sagte: „Dieser arme Umherreisende verweilt beim Einatmen nicht in den Bereichen von Körper oder Geist; wenn er ausatmet, verstrickt er sich nicht in unzählige Umstände — solch eine Schrift wiederhole ich ständig, Hunderte, Tausende, Millionen von Schriftrollen.“ (Buch der Heiteren Gelassenheit)

Prajnatara macht hier sehr deutlich, welchen Stellenwert der Atem für ihn hat: Er hat ihn in das Zentrum seines Lebens gestellt, er ist mit seiner Achtsamkeit immer bei seinem Atem und nur dort. Er ist ganz bei seinem Atem. Dann atmet der Atem den Atem.

Auch Suzuki Roshi widmet dem Atem in seinem Buch „Zen-Geist Anfänger Geist“ große Beachtung:
“ Wenn wir Zazen praktizieren, folgt unsere Aufmerksamkeit immer unserer Atmung. Wenn wir einatmen, kommt die Luft in die innere Welt. Wenn wir ausatmen, geht die Luft hinaus zur äußeren Welt. Die innere Welt ist ohne Grenzen und auch die äußere Welt ist ohne Grenzen. Wir sagen ‚innere Welt’ oder ‚äußere Welt’, doch in Wirklichkeit gibt es einfach nur eine ganze Welt. In dieser grenzenlosen Welt ist unsere Kehle wie eine schwingende Tür, die Luft geht hinein und hinaus, wie jemand, der durch eine Pendeltür geht. Wenn ihr denkt: ’Ich atme’, so ist das ‚Ich’ ein Zusatz. Es gibt kein Du, das ‚Ich ‚ sagen könnte. Was wir Ich nennen, ist nichts als eine Drehtür, die sich bewegt, wenn wir ein- und ausatmen. Sie bewegt sich nur; das ist alles. Wenn euer Geist ….. ruhig genug ist, dieser Bewegung zu folgen, dann gibt es nichts: kein ‚Ich’, keine Welt, weder Geist noch Körper, nur eine Drehtür.“
Atem atmet Atem.

Das Studium der Gefühle steht nun in der zweiten Phase der Achtsamkeit im Mittelpunkt. Es ist hier von drei Gefühlen die Rede: wir erleben etwas als angenehm, als unangenehm oder wir können keine eindeutige Aussage machen, es ist weder angenehm noch unangenehm. Wir sollten diesen beiden „Grundgefühlen“ einige Bedeutung beimessen, prägen und beeinflussen sie doch jede Situation in ihrem jeweiligen Beginn.

Nachdem wir unseren Körper und unsere Gefühle studiert haben, steht in einer dritten Phase der Geist im Mittelpunkt.
Im Rahmen der Achtsamkeitspraxis werden die „Inhalte“ des Geistes studiert, Gedanken, Bilder, Assoziationen. Das hört sich einfach an, es setzt aber schon hier zwei Einsichten voraus:
Zum einen die Trennung von Geist und seinen Inhalten, denn normalerweise sind für uns der Geist und seine Inhalte ein und dasselbe: Der Geist ist seine Aktivitäten, so wird es von uns erlebt.

Der Geist und seine Inhalte aber sind nicht dasselbe:
Ich bin nicht was ich denke, es sind (einfach nur) Gedanken die in meinem Geist auftauchen, erscheinen. (Die Aussage: Ich denke also bin ich, von Descartes, kann auf dieser Grundlage so nicht mehr aufrechterhalten werden.)

Zum anderen wird in dieser Phase der Achtsamkeit die Fähigkeit vorausgesetzt, sich als Beobachter mit den geistigen Prozessen nicht mehr zu identifizieren.

Die vierte Phase der Achtsamkeit betrachtet den Geist selber: in was für einem „Raum“ oder in was für einem „Feld“ erscheinen unsere Gedanken, Assoziationen und Bilder des Geistes.

Alles ist Bewegung, alles ist Veränderung, alles ist Aktivität. So auch auf der geistigen Ebene: Wenn die Inhalte des Geistes Aktivitäten sind, dann ist auch der Geist selber eine Aktivität, „hergestellt“ durch eben diese seine Aktivität. Wenn diese Aktivitäten nun beruhigt werden, wenn wir uns mit ihnen nicht mehr identifizieren, hat das natürlich Einfluss auf den Geist selber. Was geschieht, wenn wir Phasen von wenig oder keiner geistigen Aktivität erleben? Dann müssten wir konsequenterweise sagen, dass es auch keinen Geist (mehr) gibt. Allein diesen Gedanken zuzulassen ist nur möglich, wenn wir den Prozess der Desidentifikation mit unseren Gedanken begonnen haben.

Bewegung und Veränderung sind das grundlegende beständige Prinzip. Dieses Prinzip, bezogen auf uns als Person, auf unser Selbst und Selbst-Bild, wird jede Idee eines nicht veränderlichen Wesenskerns erschüttern. Als gelebte Erfahrung lässt es eine (gedachte oder erhoffte) Aufteilung der Welt in eine veränderliche und eine unveränderliche nicht mehr zu.

Gründliches Studieren aller unserer Aktivitäten und das Nicht-Bewerten, Nicht-Ändern und Nicht-Eingreifen führt uns direkt in den jeweiligen „jetzigen Augenblick“. Das Jetzt ist der Ort, an dem unser Leben stattfindet, es kann keinen anderen Ort geben. Und diesen Ort immer wieder neu, d h. ganz ohne Vorannahmen zu betreten, macht es möglich, anzuhalten: Wir hören auf, aktiv in das Geschehen einzugreifen, d.h. wir hören auf, die Welt durch unsere Vorannahmen, Ideen und Vor-Urteile zu definieren. Dann kann sich die Welt aus sich selbst heraus definieren und zeigen. Dogen, ein japanischer Zen-Meister des 13. Jahrhunderts, hat dies sehr schön beschrieben:

„Sich in den Vordergrund stellen und die Myriaden von Dingen zu erfahren,
ist Täuschung.
Dass die Myriaden Dinge hervortreten und sich selbst erfahren,
ist Erwachen.“

(Genjo Koan, Dogen 1985, S. 69)

Achtsamkeit ist, wie oben schon angesprochen, kein „natürlicher“ Geisteszustand. Einen solchen Geist müssen wir erwecken, wir müssen wach werden für das präzise Hinschauen und Studieren, wir müssen wach werden für den jetzigen Augenblick. Dann beginnt sich die Welt oder besser die 10.000 Dinge zu zeigen.

Tiefe Erkenntnisse und Einsichten auf dem Sitzkissen auf der einen Seite und eine durchgängig praktizierte Achtsamkeit auf der anderen Seite sind die Vorraussetzungen, die Welt und unser Leben in seiner ganzen Fülle weniger getäuscht oder gar ungetäuscht zu erleben. In den Vier Edlen Wahrheiten wird diese Erkenntnis-Grundlage nun zur Basis eines „Befreiungsweges“ der unser Unglücklichsein an seiner Wurzel studiert: Der getäuschte und immer wieder sich selber täuschende Geist.
Und dann können wir beginnen, zu handeln und die Welt auf der Grundlage von Weisheit und Mitgefühl in einen besseren Ort zu verwandeln.